Sonntag, 18. Oktober 2009

Und sie stellen sich an!

Schlangen an den Türmarkierungen auf dem Bahnsteig, man entschuldige die Qualität

Der Atem eines japanischen Geschäftsmannes wird mir ins Ohr gedrückt. Links, rechts, vor und hinter mir: Menschen. Jeder von ihnen versucht, zu Boden zu gucken - und bildet so ein Meer von schwarzen Haaren, unterbrochen von bunten Reklameschildern, die von der Decke hängen. Von allen Seiten wird gedrückt. Meine Arme sind vor meinem Körper verschränkt, während ich mit kleinen Schritten die kriechende Bewegung in den Zugwaggon unterstütze. Draußen wird etwas auf japanisch gerufen, dazu lautes Pfeifen am Bahnsteig. Männer mit schwarzen Handschuhen heben Bretter an die Körper derer, die noch nicht ganz im Waggon drin sind - und schieben. Niemand beschwert sich -es wird solange ertragen, bis schließlich jeder reingepfercht ist und die Türen der U-Bahn sich schließen.

Männer mit schwarzen Handschuhen heben Bretter an die Körper derer, die noch nicht ganz im Waggon drin sind - und schieben. (Morgens in Tokyos U-Bahn)


U-Bahn-Alltag in Tokyo zur morgendlichen Rush-Hour. Erinnerungen an oben beschriebenes, welches ich auf dem Heimweg mit einer der ersten U-Bahnen während meines letzten Aufenthaltes einmal erleben durfte, wurden gestern wach, als ich das erste Mal wieder die hochfrequentierten Linien der Untergrundbahn in Japans Hauptstadt benutzte. Ich war zu Besuch bei Arne, der an der Keio University ein Auslandssemester macht. Diesmal nahm ich die letzte U-Bahn, nicht die erste, aber die war wohl ähnlich voll, denn es war der letzte Zug, der Tokyo mit dem Heim unzähliger Pendler, Yokohama, verbindet.

Im Bahnhof Shinjuku in Tokyos Westen wird täglich eine ähnliche Masse an Menschen "umgeschlagen", wie in allen deutschen Bahnhöfen zusammen.

Wenn man überlegt, dass im Bahnhof Shinjuku täglich eine ähnliche Anzahl an Menschen "umgeschlagen" wird, wie in allen deutschen Bahnhöfen zusammen, wird einem das Ausmaß der Menschenmassen vielleicht bewusst. Das es in diesen Situationen auch durchaus zu Problemen führt, zeigt die Einführung von Markierungen, die anzeigen dass zu Stoßzeiten gewisse Waggons nur von Frauen (und ihren Kindern) benutzt werden dürfen, um sie vor sexueller Belästigung zu schützen. Sicherlich ist es in so einem Gedränge schwierig, Gewolltes von Ungewolltem zu Trennen, doch scheint bei dem einen oder anderen japanischen "Salary Man" in diesen Situationen eine Sicherung durchzubrennen.

"Die wahre Natur eines Menschen zeigt sich erst in Extremsituationen" Ist einer der Stammtischweisheiten, die ich am liebsten benutze. Nun mag man munkeln, dass für den einen oder anderen Japaner dieses Wahnsinnsgedränge schon zum Alltag gehört. Doch was treibt jemanden, der sich an Bushaltestellen gemäß der Ankunftszeit einreiht, oder an U-Bahnstationen die Ankommenden nicht nur erst rauslässt, sondern dabei sogar in einer Supermarkt-ähnlichen Schlange wartet (siehe Foto oben), 5 min. später der jungen Dame in Schulmädchenuniform an den Hintern zu greifen?

Eine Stadt - eine U-Bahn: Ohne das System, dass wie ein Uhrwerk funktioniert, würde das endlose Häusermeer Tokyo wohl im Verkehrschaos versinken

Sicherlich ist ein generelles Problem, dass die Rolle der Frauen in Japan noch eine andere ist, als bei uns. Wer mit 25 noch nicht verheiratet ist, wird schonmal abfällig als "Liegengebliebener (Weihnachts-)Kuchen" - man denke an den 24./25. Dezember - bezeichnet. Kinder zu kriegen wird mehr oder weniger als Hauptaufgabe im Leben der Frauen angesehen - und danach ist die noch junge Karriere in der Regel vorbei. Im öffentlichen Leben haben Frauen mit erheblichen Ungerechtigkeiten bei Gehältern und Jobsuche zu kämpfen. Während bei die Emanzipationsbewegung über Diskriminierungsprobleme wie die Namensgebungen für Hoch- oder Tiefdruckgebiete in der Wettervorhersage diskutiert, sind die Probleme hier noch wirklich essenziell. Das die Mädchen in der Schule in einem sonst (öffentlich) eher prüden Land Schuluniformen angezogen bekommen, die bei meinem sehr direkten Deutschlehrer Alfred Vollmer wohl die Worte "billige Schlampen" in den Kopf zaubern würden, mag man guten Gewissens als Ausdruck der Wertschätzung weiblicher Studenten auffassen.

Wer mit 25 noch nicht verheiratet ist, wird schonmal abfällig als "Liegengebliebener (Weihnachts-)Kuchen" - man denke an den 24./25. Dezember - bezeichnet. (Wikipedia über Japan)


Doch offenbart sich bei den U-Bahngrapschern vielleicht ein noch etwas tiefer liegendes Problem. Wer unserer Tage nach Japan reist, wird von der Höflichkeit im öffentlichen Leben trotz aller Erwartungen immer noch positiv überrascht werden. Die Freund- bis Herzlichkeit, mit der die Hierarchien im alltäglichen Service akzeptiert und letzterer ausgeübt wird (Supermarktangestellter zu Kunden, Mensakoch zu Student, Busfahrer zu Fahrgast, ja sogar Polizist zu Passant), grenzt an Selbstaufgabe. Das hört jedoch auch im privaten Leben nicht auf. So kommt die gesamte Belegschaft spontan mit, wenn der Chef zum Abendessen einläd, egal wie lange das dauert. Und wann gegangen wird, entscheidet man nicht selbst, das entscheidet der Gastgeber. In Diskussionen, in Geschäftsbeziehungen, in Freundschaften - stets wird versucht, die eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken. Oder so zu verpacken, bis der Gegenüber sie erkennt, sie erfüllt und man damit um die Blamage herumgekommen ist, den eigenen Willen direkt zu äußern.

So ein Verhalten der an Selbstaufgabe grenzenden Höflichkeit weckt Verwunderung, denkt man doch an Geschichten über das imperial-brutale Auftreten früherer Generationen. Oder die unvergleichlichen Auswüchse von Pornographie und Gewaltdarstellung, z.B. in Computerspielen. Doch bereits in Vietnam hatten wir das Gefühl, dass asiatische, äußere Freundlichkeit in kurzer Zeit auf unberechenbare Aggression umschlagen kann.

"Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem Sachen wie Pornographie solches Ausmaß annehmen. Das ist einfach zu viel, das ist krank." (Alice)


In meiner Nachbarschaft war ein Junge, wir nennen ihn mal Jan H. (nicht Höpper ;) ), der in der Klasse meines Bruders war und für mich seitdem als Inbegriff der Auswirkungen einer zu harten Erziehung gilt - nach außen höflich und freundlich, aber hintenrum ein richtiges Arschloch. So kann man es bei den Asiaten nicht unbedingt formulieren. Aber dennoch suchen sich auch diese häufig Möglichkeiten, Emotionen und Fantasien zu kanalisieren, wohl in Wegen wie Pornographie oder Computerspiele, Comics oder virtuellen Welten. Für manche mag diese Trennung von Öffentlichkeit und Privatleben und die Einordnung der Individualität in letzteres einfach toll sein, besonders wenn man sie nicht begreift. Zu letzteren würde ich wohl all diejenigen zählen, für die Japan das Paradies der freundlichen Menschen ist. Aber man kann es auch für eine funktionierende Form der Gesellschaft halten, die halt von unserer verschieden ist. Besonders aus Korea, wo man einen ziemlichen tiefen Einblick in das Leben in Japan hat (allein schon aufgrund der geographischen und kulturellen Nähe und der Bedeutung der japanischen Wirtschaft für Korea), kommen eher kritischere Stimmen. "Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem Sachen wie Pornographie solches Ausmaß annehmen. Das ist einfach zu viel, das ist krank." Höre ich die Worte von Alice in meinen Ohren.

Da der Text jetzt schon zu lang ist und ich gleich zur zweiten Oktoberfestparty dieses Wochenendes muss, werde ich die Ausführungen nicht mehr weiter führen... spinne man selbst die Gedanken fort - ich schaue lieber betrunkenen Japanern beim Blamieren zu.

1 Kommentar:

Fredi hat gesagt…

interessant!!